Wichtig ist allerdings, dass das bedingungslose Grundeinkommen
NICHT UNTER DEM EXISTENZMINIUM liegt.
Der Sozialphilosoph André Gorz begründet dies folgendermaßen: “Die Garantie
eines unter dem Existenzminium liegenden Grundeinkommens,  das nach seinen
Verfechtern den größten Teil der Einkünfte aus Umverteiungsprozessen ersetzen
soll (also die Familien- und Wohnungsbeihilfen, das Arbeitslosen- und Kranken-
geld, die Sozialhilfe, die Mindestrente), hat die Aufgabe, die Arbeitslosen zur An-
nahme von mühsamen und erniedrigenden Niedriglohnbeschäftigungen zu
zwingen.
Das enstpricht der neoliberalen Position der Anhänger Friedmans der Chicagoer
Schule, aber auch der von deutschen Liberalen wie Mitschke und der von briti-
schen Sozialliberalen. Für sie erklärt sich die Arbeitslosigkeit aus der Tatsache,
dass zahlreiche potenzielle Arbeitsplätze von niedriger Qualifikation und Produk-
tivität nicht rentabel sind, solange sie normal bezahlt werden. Demnach muss
man diese Arbeitsplätze subventionieren, etwa in dem man unzureichende Nied-
riglöhne mit einer ebenfalls unzureichenden Grundsicherung aufstockt. Auf diese
Art schafft man einen zweiten, gegen die Konkurrenz aus Billiglohnländern ge-
schützten „Arbeitsmarkt“, der aber selbstverständlich auch vor den Bestim-
mungen des Arbeitsrechts geschützt ist, das damit zum Verschwinden verurteilt
wird.
Je geringer die Grundsicherung ausfällt, desto stärker der „Anreiz“, jede belie-
bige Arbeit anzunehmen, und desto stärker entwickelt sich auch ein Unterneh-
mertum von „Sklavenhändlern“, das sich auf Billigarbeitskräfte in äußerst in-
stabilen Leih- und Unterverleihfirmen von Dienstleistungen sepzialisiert hat.
Mehr dazu siehe ...
Ein allen garantiertes, ausreichend soziales Grundeinkommen untersteht einer
umgekehrten Logik: Es soll nicht mehr diejenigen, die es beziehen, zu jeder
beliebigen Arbeit unter allen Bedingungen zwingen, sondern es zielt auf deren
Befreiung von den Zwängen des Arbeitsmarktes ab. Es soll ihnen ermöglichen,
„unwürdige“ Arbeit und Arbeitsbedingungen abzulehnen, und es soll darüber
hinaus einem sozialen Umfeld angehören, das jedem Einzelnen erlaubt, jederzeit
zwischen Nutzwert seiner Zeit und ihrem Tauschwert zu entscheiden, d.h. zwi-
schen den „Gebrauchswerten“, die er durch den Verkauf seiner Arbeitszeit er-
werben, und den Nutzwerten, die er durch eigenständige Verwendung dieser   
Zeit schaffen kann. 
Das allgemeine und ausreichende Grundeinkommen (…) darf nicht als eine Art
Unterstützung oder gar Sozialhilfe verstanden werden, das die Einzelnen vom
Wohlfahrtsstaat abhängig macht. Sondern es ist ganz im Gegenteil im Sinne der
von Athony Giddens so genannten generative policy zu verstehen.
Danach soll es Einzelnen und Gruppen verstärkt die Möglichkeit zu Selbstverant-
wortung und ein größeres Gestaltungsvermögen ihres Lebens und ihrer Lebens-
bedingungen geben.
 Es soll nicht von aller Arbeit entheben, sondern im Gegenteil das Recht auf
Arbeit zu einem wirklichen Recht machen: Nämlich nicht als das Recht auf ab-
strakte „Arbeit“, die einem zur Verrichtung „gegeben“ wird, sondern auf konkrete
Arbeit, die man, ohne dazu genötigt zu sein und ohne deren Rentabilität und
Tauschwert berechnen zu müssen, macht. (….)
Die Rückläufigkeit der Lohnarbeit, des Arbeits- und Dienstleistungsmarktes und
die Entfaltung von nicht-monetären Tauschbeziehungen und von Selbstversor-
gung sind dagegen die Perspektive, die sich uns öffnet und die wir einnehmen
müssen.
Selbstversorgung könnte, nach Frithjof Bergmann, leicht 70 Prozent der Bedürf-
nisse und Wünsche in je zwei Arbeitstagen pro Woche befriedigen. Die gegen-
wärtig diskutierten Ansätze müssen auf dieser Grundlage danach bewertet wer-
den, ob sie sich dieser Zielvorstellung annähern oder sich von ihr entfernen, ob
sie diese Perspektive eröffnen oder sie verstellen, ob sie die Notwendigkeit eines
Bruchs belegen oder ignorieren.
In solchem Sinne ist übrigens auch das allgemeine, ausreichend soziale Grund-
einkommen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von den libertären So-
zialisten und Kommunisten, z.B. Bellamy und Popper-Lynkeus, befürwortet wor-
den. Für sie ging es nicht darum, Lohnarbeit neu zu verteilen oder zu „teilen“,
sondern die Lohnabhängigkeit, den Arbeiszwang, den Staat und das kapitalis-
tische Unternehmen abzuschaffen.
In diesem Sinne argumentierten auch die französischen Distributisten im
Anschluss an die Theorien von Jaques Duboin ebenso wie die von Proudhon
geprägte intellektuelle Bewegung „L’Ordre neouveau“ (Robert Aron, Arnaud
Dandieu, Alexandre Marc) in den dreißiger Jahren sowie Paul Goodman und
Robert Theobald in den Vereinigten Staaten und die deutschen „Grünen“,         
die  zu Beginn der achtziger Jahre diese Tradition weitgehend erneuerten.
 
Quelle: André Gorz, “Bedingungsloses Grundeinkommen,
      Grundlagentexte, Herausgegeben von Philip Kovce und
       Birger P.Priddat”, 2019, Suhrkamp Verlag Berlin, S.424ff.