Wenn jedes Gesellschaftsmitglied eine lebenslange Existenzsicherung
erhielte, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, dann würden die Ängste
vor Arbeitsverlust und vor unternehmerischen Misserfolg gegenstandslos.
Eine vollständige hinreichende Existenzsicherung (nicht etwa ein auf dem
Umfang eines zynischen Almosens abgesenktes Sozialhilfeniveau für alle!),
die die Gesellschaft jedem gänzlich unabhängig von geleisteter Arbeit ge-
währt, böte neben dem Verschwinden der Angst folgende Chancen:
Jeder könnte angstfrei Erwerbsarbeit betreiben, sofern er es will. Jeder
könnte jedoch auch unentgeltlich in einem von ihm selbst bestimmten Sinn
gesellschaftlich tätig werden und dafür mit öffentlicher Anerkennung
belohnt werden.
Es würde auf diese Weise möglich, der Arbeit eine gesellschaftliche Dig-
nität zu geben, die bisher ausblieb. Auch hochbezahlte Tätigkeit wird näm-
lich häufig von dem Urteil der Betroffenen begleitet, dass ganz andere Ak-
tivitäten weitaus sinnvoller seien. Die Menschen könnten sich nunmehr
Betätigungsfelder jenseits von Erwerbszwängen erschließen.
Durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen würde vor allem auch die
Selbst-Positionierung eines jeden um eine vermutlich entscheidende Be-
dingung reicher: Sie könnte nicht nur formal, sondern material frei von dem
Zwang geschehen, Tätigkeiten für andere zu verrichten, deren Art und Um-
fang weder stets als sinnvoll erlebt wird noch auch zum bloßen Überleben
hinreicht.
Die gezielte, von langer Hand vorbereitete jetzige Politik der „Reformen“,
die sich als Politik der Prekarisierung entpuppt, beruht bekanntlich auf
einer Sozialpsychologie ökonomischer Ineffizienz. Indem man droht, Äng-
ste erzeugt, Knappheiten schafft, Zukunftsversorgung entzieht, schafft man
sich Mitarbeiter, denen kaum noch Motivation des Einsatzes für die Firmen-
ziele bleibt.
Umgekehrt dürfte gelten: Die materiale Freiheit der Selbst-Positionierung
vermag eine Tätigkeit für andere freizusetzen, die unsere Kulturen bisher
noch gar nicht kannten. Es könnten dann, weil niemand mehr von Sorgen
um seine Unversorgtheit verzehrt würde, Romane geschrieben werden, die
noch nie geschrieben wurden, Erkundungen unserer selbst erfolgen, die
uns bisher unbekannt blieben, Entdeckungen einander abwechseln, die
noch nicht einmal geahnt wurden. Die materiale Freisetzung unserer
Selbst-Positionierungen würde uns vor uns selbst würdiger erschei-
nen lassen.
Die Wirtschaft, die ihre Fähigkeit zur Vergrößerung von Güterproduktion
bei verringerter menschlicher Arbeitskraft bewiesen hat, könnte den Weg
fortschreitender technischer Innovationen unter völlig neuen Rahmen-
bedingungen gehen. Die Aufrechterhaltung unrentabler und die Umwelt
verschmutzender Industrien - wie z.B. der Steinkohle - würde dann auto-
matisch entfallen.
Die Wirtschaft könnte dabei das ökologische Optimierungsgebot passender
erfüllen, als es bisher vorstellbar war. Die Wirtschaftswissenschaften, die
bisher ihre künstlichen Modelle als Quasi-Naturgesetzlichkeit verstanden,
bekämen ein attraktives und alternatives Forschungsfeld mit dem Ziel, Mo-
dell zu entwickeln, wie die Daseinssicherung finanzier- und realisierbar
wird.
Die Politik könnte ihr noch immer vorherrschendes Paradigma der gegen-
seitigen Schuldzuweisungen eintauschen gegen ein Paradigma neuartiger
Globalisierung: der Globalisierung von Angsfreiheit auf der Basis allge-
meiner und unbedingter Versorgungsgarantie.
Der alte Sozialvertrag des Erwerbszwangs wird abgelöst durch einen
Gesellschaftsvertrag der Freiheit vom Erwerbszwang. Staat und Wirtschaft
schließen einen Gesellschaftsvertrag der Solidarität.
Quelle: Bernhard H.F.Taureck, “Bedingungsloses Grundeinkommen,
Grundlagentexte, Herausgegeben von Philip Kovce und
Birger P.Priddat”, 2019, Suhrkamp Verlag Berlin, S.446ff.