Warum ist es so gefährlich, wenn wir zu “gläsernen Bürgern” werden und
unsere Privatsphäre verletzt wird? Viele Menschen - vor allem die der jün-
geren Generation - sind ja heute oft der Meinung, dass es nicht so schlimm
sei, wenn sie “überwacht” werden, sie “hätten ja nichts zu verbergen” ...
Das ist eine sehr kurzsichtige Einstellung. Denn erstens, wissen wir, wer in
20 oder 30 Jahren an der Macht ist? Und zweitens beginnt jede Diktatur
mit Überwachung und der Einschränkung der Privatsphäre.
Nicht ohne Grund sind in jeder Demokratie Gewaltenteilung und das
Recht auf Privatsphäre unverletzliche Rechte. Denn sie sind die Grundlage
unserer persönlichen Freiheit
Welzer erklärt es so: “Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Diese
Abwesenheit von Zwang bedarf paradoxerweise zahlreicher Institutionen,
die sicherstellen, dass niemand Zwang auf jemand anderen ausüben darf,
ohne dafür legitimiert zu sein. Parlamente, Gerichte, Finanz-, Gesund-
heits- und Schulämter, Straßenverkehrs- und Strafprozessordnungen, bür-
gerliche Rechte und Pflichten, Polizei, Militär, Ordnungsämter usw. usf.
sind Institutionen, die in rechtsstaatlichen Demokratien Freiheit ermög-
lichen und sicherstellen. Gäbe es dieses institutionelle Gefüge nicht, würde
Willkür herrschen, die diejenigen ausüben können, die über mehr Macht-
mittel verfügen als andere. Freiheit ist, mit anderen Worten, regulierte
Macht: die Zähmung von wirtschaftlicher und physischer Macht durch
Recht.” (S.107ff.*)
Das wiederum garantiert die Gewaltenteilung: “Denn individuelle Freiheit
gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzi-
gen Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere - voneinander 
unabhängige - Wirklichkeitsmächte existieren, die - beim Zugriff auf den
Einzelnen - durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim
Zugreifen behindern und einschränken.
Ein solches Zugriffsgedrängel war im Sommer 2015 in Deutschland zu
besichtigen, als der Generalbundesanwalt die Blogger von netzdemo-
kratie.org wegen Landesverrats verfolgte, dafür von der Presse angegriffen
wurde, was den Justizminister in Bedrängnis brachte, der den General-
staatsanwalt anwies, die Sache nicht weiter zu verfolgen, was dieser als
unzulässigen Eingriff in das Recht auslegte und öffentlich beklagte,
woraufhin er vom Justizminister entlassen wurde.
Im Grunde ist der moderne Staat insgesamt als organisiertes Zugriffsge-
drängel zu beschreiben - man muss sich dazu etwa nur mal das Organi-
gramm des Kanzleramtes anschauen.
Das wirkt alles unglaublich bürokratisch, sichert aber die Stabilität des
Ganzen, weil niemand alleinige Zugriffsmöglichkeiten gewinnen kann.
Vermutlich hätte selbst jemand wie Hitler keine Chance gehabt, in einer
heutigen Staatsbürokratie alleinige Macht zu entfalten. (S.109ff.*) 
Und warum ist für unsere persönliche Freiheit die Wahrung der
Privatsphäre so wichtig?
Welzer: “Ich bin nur dann autonom, wenn ich Dinge tun oder lassen
kann, ohne irgend jemand anderem darüber Rechenschaft abzulegen. Was
ich privat mache, ist - mit einem Begriff von Ramond Geuss - “unbeacht-
lich”, es geht niemanden etwas an.
Alle Verfassungsväter und -mütter von der amerikanischen Verfassung an
waren sich der Notwendigkeit des absoluten Schutzes von Privatsphäre
bewusst, deshalb stehen Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Woh-
nung, das Briefgeheimnis usw. in jeder modernen Verfassung.
Und genau deshalb waren sich alle totalitären Denker und Herrscher und
Diktatoren darüber klar, dass Privatheit das zentrale Hindernis für die
Durchsetzung totaler Herrschaft ist. Solange Menschen etwas für sich ha-
ben, in das niemand anderer, schon gar nicht der Staat, eindringen kann,
sind sie nicht vollständig beherrscht. Deshalb ist in allen Diktaturen “das
Selbst das erste besetzte Gebiet” (Günther Anders).
Und damit stehen wir vor der historisch neuen Situation, dass wir Objekte
einer Technologie geworden sind, die unser “Selbst” schon besetzt hat,
bevor sich die Staatsform formal geändert hat. Diese Besetzung betrifft
alles, was wir sind und zu sein beanspruchen: unsere Gedanken, unsere
Vorlieben, unser Kaufverhalten, unser Bankkonto, unsere sozialen Be-
ziehungen, einfach alles.
Wir sind, Eric Schmidt wird es freuen, das zu hören, schon längst nicht
mehr die , die wir zu sein glauben. Längst schon haben andere Formen
der Selbstkontrolle Macht über uns ergriffen, längst zensieren wir uns,
bevor andere das tun, längst haben wir Angst, dass irgendetwas “von
früher” zutage tritt, das heute negativ betrachtet wird, längst sagen wir
wirklich Privates, gar Subversives nur noch unter genau geprüften
Bedingungen.” (S.196ff.*)
Übrigens propagieren Google u.Co, dass mit “dem Schritt ins Digitalzeit-
alter Handel, Bildung, Gesundheitswesen und Justiz effizienter, trans-
parenter und demokratischer” werden soll.
Was hier mit “demokratisch” gemeint ist, ist allerdings nicht, was in der
langen Geschichte schließlich zur repräsentativen Demokratie geführt hat.
Ganz im Gegenteil geht es hier, “um eine akklamative Beteiligung in
sogenannten Sachfragen; Politiker werden als eine Art Erfüllungsbeauf-
tragte betrachtet, denen man mit der allumfassenden Überwachung bes-
gtens auf die Finger klopfen kann: “Die Bürgerbeteiligung wird neue
Dimensionen annehmen, denn jeder mit einem Mobilgerät und Zugang
zum Internet wird in der Lage sein, den Politikern mehr Rechenschaft und
Transparenz abzuverlangen. (...) Die Technologie eröffnet Bürgern bis-
lang ungeahnte und kreative Möglichkeiten, die Ordnungshüter zu kon-
trollieren. Sie könnten beispielsweise interaktive Bewertungsportale
einrichten, auf denen sie in Echtzeit jeden Polizeibeamten ihrer Stadt
öffentlich beurteilen können.”
Hinter all dem wird erkennbar, dass es hier nicht um Demokratie und
Gewaltenteilung geht, sondern um eine Welt der totalen wechselseitigen
Kontrolle, in der keine Institutionen den Einzelnen schützen und jeder die
Gestapo des anderen ist. (....) Und wer bewertet denn in dieser postaufklär-
erischen, postrepublikanischen Welt, was richtiges oder falsches Verhalten
ist? Bezieht die “Bürgerbeteiligung” dieses Typs auch den Mafioso ein -
darf der auch seine Bewertung des Polizisten abgeben? Und was zählt die
dann?
Totale Transparenz, hat Peter Steinbrück richtigerweise gesagt, gibt es nur
in Diktaturen. In der smarten Diktatur tritt sie nun ausgerechnet unter
dem Vorzeichen der “Bürgerbeteiligung” an. Früher nannte man das
“Denunziation”.
Diese Transparenzhölle entspricht auf das Genaueste dam, was Dave
Eggers in seinem Roman “Der Circle” entwickelt hat: eine totalitäre
geheimnislose aseptische Welt, in der jeder aufs Peinlichste darauf
bedacht ist, bloß nichts falsches zu machen.
Ein antielitärer Gestus und das vorgebliche Interesse an der Gleichheit
aller Menschen ist immer schon ein Merkmal totalitärer Bewegungen
gewesen. In Gestalt des Libertarismus kehrt in diesem Sinn, wie auch
Jonathan Franzen in seinem Roman “Purity” andeutet, die fürsorgliche
Diktatur vom Typ DDR in ganz unerwarteter Weise wieder - auch dort
wollte man ja nur das Beste für die werktätigen Massen. Aber nein:
Egalitär ist das natürlich alles nicht gedacht. Denn die Serverfarmen,
Staatsinseln, Minenunternehmen, Milizen usw. gehören ja nicht allen   
und sollen es auch nicht sein.
Dieser Überwachungssozialismus hat seine Grenzen selbstverständlich
dort, wo die Daten gesammelt, aufbereitet, analysiert und verwendet wer-
den. Dort beginnt das Reich des privaten Eigentums. Nicht umsonst gilt
Google als das Unternehmen, das über sich selbst am höflichsten von allen
schweigt.
In ihrem Weltentwurf machen sich Schmidt & Co. aber schon mal
Gedanken darüber, wie man für andere Länder revolutionäres Füh-
rungspersonal findet: “Anders als heute werden Politikberater aus der
Informatik und Kognitionspsychologie kommen, technische Fähigkeiten
mitbringen und mit Hilfe von Daten eine politische Persönlichkeit aufzu-
bauen und ihr Profil zu polieren (sic!). Dank der Technik werden sie in
der Lage sein, das politische Potential etwaiger Kandidaten einzuschätzen:
Mit Analyseprogrammen können sie ihre Reden und Texte auswerten, mit
Hirnscans ihre Reaktion auf Stress oder Versuchungen beobachten und
mit raffinierten Diagnoseverfahren die Schwächen ihres politischen
Repertoires ermitteln.” (S.190ff*)
Das sind also die Zukunftsvorstellung von Ex-Google-Chef Schmidt u.Co.
- und wenn sie öffentlich auftreten, sind die Säle voll. Mehr noch:
Politiker aller Parteien zeigen sich gerne mit ihnen, wie Welzer richtig
bemerkt. Und diese schweigen auch zu den Gefahren, die zum Beispiel von
“vernetzten Autos” oder der “Industrie 4.0” ganz allgemein ausgehen.
Welzer: “Dass diese schöne neue Welt auf einem Fundament gedacht und
verwirklicht wird, das mit unseren Werten, Prinzipien, Rechten und Ver-
fahren nichts oder allenfalls noch auf der Oberfläche etwas gemeinsam
hat, scheint hinter all dem Effizienz- und Optimierungs- und Welt-
verbesserungsgerede unterzugehen”. (S.194*) 
 
 
  
    Die Aushebelung von Demokratie und Rechts-
staatlichkeit und die Unterminierung unserer Freiheit
*) Harald Welzer, “Die smarte Diktatur - Der Angriff auf unsere Freiheit”,
      2016, Fischer Verlag